Donnerstag, 26. Juni 2008
Schlaraffenland: "0" Heute am HBF


Der Bahnsteig der U-Bahn war menschenleer. Es war muffig hier unten. Und still. Unglaublich still. Ich befand mich in den toten Adern eines künstlichen Organismus. Trübes Licht aus Neonröhren wies mir den Weg an die Oberfläche. Dort wollte ich hin. Der Rucksack wog schwer auf meiner Schulter. Über eine defekte Rolltreppe gelangte ich auf die nächste Ebene. Auch hier, der gleiche muffige Geruch und diese unnatürliche Stille. Plötzlich ein schleifendes Geräusch. Ohne mich umzudrehen, aber mit schnellem Schritt, begab ich mich auf die letzte Ebene vor dem Sonnenlicht.

Diese Etage war anders. Schritte, langsame Schritte. Schluuurf, Schluuurf. Beine wurden hinterher gezogen. Es roch nach abgestandenem Urin, alter Asche und eben jenem Muff, welcher aus den U-Bahnschächten nach oben strömte. Das Neonlicht illuminierte die Kacheln. Es war unwirklich. An der Oberfläche wird sie mich wiederhaben, die Wirklichkeit. Gleißendes Sonnenlicht schien durch das Treppenhaus. Zügigen Schrittes erklomm ich die Treppe und schaute dabei gen Himmel. Doch das Unwirkliche wollte seine wirren Fänge nicht von mir lassen. Im Zeitraffer zog der Himmel zu. Schwere graue Wolken verdeckten die Sonne. Die Luft war warm und schwer. Meine Augen brannten und tränten, trotz des trüben Tageslichts, an das sie sich dennoch gewöhnen mussten. Der Kontrast zum toten Licht der Katakomben war zu groß.

Hier stand ich nun, an einem Treppenaufgang zum Bahnhof. Mitten auf einem Platz. Es waren ca. 900 Meter bis in die Stadt. Dafür musste ich nur den Platz und die Bahnhofsunterführung bewältigen. Vor mir eine scheinbar tote Masse. Doch die Masse bewegte sich. Wie Mehlwürmer auf einem Teller. Scheinbar ziellos umherirrend, zuckend, widerlich.

Der erste der mir Begegnete war ein alter Mann, sein Blick war trüb, tumb. Seine Beine, bekleidet mit schmuddelig anmutenden Shorts, waren rot und blau, voller Unebenheiten. Als würde er von innen nach außen verwesen. Er beachtete mich nicht und ich machte einen großen Bogen. >Ja nicht berühren.< dachte ich fahrig. Trotz allem bewegte ich mich, für meine Verhältnisse, fast schon elegant aber auch sehr vorsichtig.

Die nächsten Gestalten welche mir begegneten, waren ein Mann und eine Frau. Das Gesicht des Mannes wies denselben trüben Blick auf wie der des Greises. Er hatte einen leichten Buckel, seine Kleidung wirkte strapaziert. Die Frau an seiner Seite wirkte verwirrend harmlos und zugleich unglaublich beängstigend. Nein, sie lief nicht, sie wankte. Ein Bein schien kürzer zu sein. Wie ein eierndes Rad folgte sie ihrem Freund. War es ihr Freund? Das Schlimmste war ihr Gesicht. Unnatürlich verzogen, Geifer tropfte aus ihrem Mund und eine Brille saß schief auf der knolligen Nase. Auch sie nahmen keine Notiz von mir, hinterließen aber einen unangenehm käsigen Geruch. Unwillkürlich musste ich an Frankreich denken.

Weitere Schatten ehemaliger Menschen säumten meinen Weg. Sie beobachteten mich aus ihren toten Augen wie Fische auf der Jagt. >Warum greift ihr nicht an?< dachte ich mir. Hätte ich es doch nicht getan. Nur noch wenige Meter trennten mich von der Innenstadt, dem sicheren Bereich, als mich etwas am Arm berührte. Bevor ich es sah, roch ich es. Eine Bierflasche die offen, halb voll, mehrere Tage in der Sonne steht. Ich ekelte mich. Dann sah ich den Arm der mich berührte. Klauenartige Finger mit zahlreichen Wunden, gerissenen Fingernägeln und Geschwüren waren es, die meinen Körper behelligten. Daran schloss ein Arm mit zahlreichen kreisrunden Löchern an, der wiederum in einem skelettartig abgemagerten, ehemals weiblichen, mit schlaffer Haut behangenden Körper wurzelte. Mir war als müsse ich mich übergeben. Doch nun waren sie in die Offensive gegangen. Nun war die Tarnung aufgeflogen. Sie merkten, dass ich keiner von ihnen war. Ich stieß das „Ding“ von mir und begann zu rennen. Der Rucksack schlug im Takt meiner Schritte gegen meinen Rücken. Er behinderte mich. Er war jedoch zu wertvoll um ihn zurück zu lassen. Besser: Der Inhalt war es. Ich spürte das Leben in mir, jenes Leben welches den Ghulen vor langer Zeit abhanden gekommen war. Mein Herz schlug schneller. Ich spürte wie sich alle Aufmerksamkeit auf mich richtete. Arme wurden Ausgestreckt, grässliche Finger langten nach mir. Verlangen nach Fleisch, meinem Fleisch, schwängerte die Atmosphäre. >Ein paar Meter, dann bist du sicher.<

Inzwischen konnte ich die Wachen sehen, den Karbonzaun und die auf ein ehemaliges Taxi montierte 5-Röhrige. Sicherheit, Sicherheit, Leben, Leben. Mehr konnte ich nicht denken. Ich sah die schmuddelige Fassade des ehemaligen Grandhotels, welches hinter dem Sicherheitsbereich emporragte. Schüsse fielen, ich fiel. Schreie. Schüsse. Poltern. Matschgeräusche. Ein Motor. Blind vor Angst rappelte ich mich auf. Die Wachen hielten mir anscheinend den Rücken frei. Das martialisch anmutende Taxi brauste an mir vorbei. Einer der Soldaten stand hinten im Wagen und feuerte mit der 5-Röhrigen. Dieses Massaker konnte keiner Überleben. Nicht mal ein Untoter. Es fuhr eine rasche Runde und blieb dann schlingernd neben mir stehen. Die Fahrerin lehnte sich lässig aus dem Fenster: „Gut gemacht, Junge! Komm rein, wir fahren dich das letzte Stück.“


Wer auch mal ne Zombiegeschichte schreiben will, sollte sich mal an einen Hauptbahnhof seiner Wahl setzen und die Leute beobachten. So hab ich es heute gemacht. Ein Quell der Inspiration, so ein Hauptbahnhof…

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