Entschleunigung bis zum Stillstand


Schön und gut. Ich bin ja oft etwas euphorisch wenn ich vom Emsland berichte. Wenn ich das tue, war ich aber auch nur 4 Tage hier! Inzwischen sind es fast zwei Wochen. Ja klar, ich hatte meinen Spaß, und ich hatte auch meine Gründe hier zu bleiben. Und diesen Grund bereue ich weiß Gott nicht! Aber, verdammt noch mal, mir ist wieder bewusst geworden warum ich die Beine in die Hand genommen habe und weggezogen bin!

Mir fällt es schwer dieses Gefühl in Worte zu fassen. Ich versuche es trotzdem:

Ich fühle mich hier auf die Dauer unfrei. Ist man nur einmal im Monat übers Wochenende in der „Heimat“, ist alles ungezwungen. Papa sagt: „Junge, nehm das Auto, fahr ne Runde.“ Oder man geht spazieren. Keine Ahnung. Bleibt man aber länger, fällt einem die Abhängigkeit auf. Kein komfortables Trämchen 101, das vor der Haustür hält und mich bringt, wohin ich will. Stattdessen: Abhängigkeit von einem PKW. Blöd wenn man keinen hat. Also: Abhängigkeit von der Gnade meiner Mitmenschen.

Und hat man mal die Möglichkeit mit dem Auto davonzubrausen, fragt man sich wohin. Man kennt ja schon alles. Also fährt man mehr oder weniger planlos rum. Voll gut fürs Klima und die Geldbörse. Und dann das: Ich habe mehr als einmal erlebt, wie der widerborstige Wagen meines Opas Richtung A31 drängte und ich ihn nur knapp davon abhalten konnte in den Pott zu tuckern.

Zudem die Rolle die man hier innehat: Die des Sohnes. Leider kann ich niemandem Vorwürfe machen. Meine Ma ist nun mal ein Gewohnheitstier. Der totgeglaubte Alltag der Pubertät steigt nach drei Tagen aus seiner finsteren Gruft. Er frisst alle Freude, Vorwürfe flattern wie Fledermäuse durch die Luft. Blitz und Donner manifestieren sich in kleinen Streitereien. Zum Glück bin ich inzwischen vernünftiger geworden und beherrsche die Kunst der Deeskalation wesentlich besser. Trotzdem blöd, weil 90% der Streitereien einfach überflüssig sind und auf Sturheit (von welcher Seite auch immer) basieren.

Nun habe ich beschlossen zur Guerillataktik zurückzukehren. Mehr oder weniger zum Glück bleibt mir ab demnächst ja eh nix anderes über. So freuen sich beide Parteien über besuche, es ist wieder etwas besonderes, und man nutzt die Zeit im guten alten Emsland um gepflegt durchzuatmen. Wie sagt man? Zu „entschleunigen“. Doch wie beim Beschleunigen gibt es eine Grenze. Dort nennt man es Höchstgeschwindigkeit. Hier ist es der Stillstand. Also: Kurz vor dem Stillstand noch mal voll aufs Pedal treten und bäck tu Essen.

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Du hast ja so recht. Gebürtig auch aus dem Emsland hat es mich zu Studienzwecken zuerst nach Osnabrück verschlagen. Also in nicht zu leugnende Besuchsnähe zur Heimat. Der sich selbst füllende Kühlschrank, die vorbereiteten Mittagessen und die Gewissheit, dass sich um einen gekümmert wird sind zwar für eine gewisse Zeit schön. Aber dann dieses latente Gefühl, dass Eltern einen prinzipiell behandeln wie einen maximal 12jährigen. Oder das "Nach einer Party total verkatert um 12 zum Mittagessen geweckt werden". Nett gemeint, aber irgendwie unpassend.
Irgendwann reichts einfach.
Allerdings übersteh ich durch die momentan grössere Distanz nach Hause die daher selteneren Heimatbesuche ein wenig länger. Es kommt halt auf die Dosis an.

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"Der totgeglaubte Alltag der Pubertät steigt nach drei Tagen aus seiner finsteren Gruft."

Du hast es auf den Punkt gebracht.

Ich finde es nach wie vor unglaublich dass man (ich) nach 2 Std daheim wieder 16 Jahre alt ist. Ich reg mich zumindest über dieselben Dinge auf.. Dabei sollte man doch irgendwann über den Dingen stehen. Zumindest wenn man schon über 10 Jahre nicht mehr daheim wohnt..

Und manchmal habe ich das Gefühl ich ertrage es überhaupt nur weil ich in Berlin lebe während mein Eltern in Köln leben.
Manchmal frage ich mich ob ich es ertragen könnte in die Stadt zurückzugehen.. Muss man dann sonntäglich zum Kaffee-trinken? Uff.

Was auch viel ausmacht: Mein Kinder/Jugendzimmer existiert gar nicht mehr weil es nochmal einen Umzug gab als ich Abi machte. Gäbe es das noch würde ich wahrscheinlich abends dort liegen, in einer Bravo blättern, mich fragen warum ER nicht angerufen hat und mich dann mit meiner Mutter über das lange Telefonieren streiten und mir aus Trotz die Haare färben oder so.

Aber was meintest Du mit "Guerillataktik "?

Ich habe die Taktik: Auskosten dass es einen vollen Kühlschrank gibt und einen Fernseher..;-)

Und die Dosis machts, microserf hat recht.

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Ich habe gerade eine ebenfalls aus dem Emsland kommende Freundin zu Besuch, der ich diesen Beitrag mal vorgelesen habe (gibt´s ja leider nicht als Hörbuch;) ). Sehr treffende Worte. Du sprichst uns quasi aus der (emsländisch-provinziellen) Seele...

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